Colin Frank Bartel, Rowa, Klasse 10, Ernst-Alban-Gymnasium Neubrandenburg
Die gescheiterte Hoffnung
Ein fiktives Interview mit Anna Seghers über ihren Roman "Das siebte Kreuz"
(im Rahmen von Buchvorstellungen im Deutschunterricht der Klasse 10 a)
C.B.: Frau Seghers, noch vor 20 Jahren waren Sie ein Star unter den Autoren der DDR. An Portalen von Bibliotheken und Schulen prangte Ihr Name und viele Eltern erinnern sich noch, wie man ihnen bei der Schulentlassungsfeier Das siebte Kreuz in die Hand gedrückt hatte. Heute sind Sie ein wenig in Vergessenheit geraten, Jugendliche nennen das "mega-out", und ich wette, auch viele unserer Zuhörer heute (Leser unserer Schülerzeitung 1) ) kennen weder Ihr Leben noch Ihr Werk.
A.S.: Nun, ohne Umschweife, junger Mann, seit wann lesen Sie selbst denn meine Bücher?
C.B.: Offen gesagt, noch vor einem halben Jahr waren Sie für mich nicht mehr als ein paar angestaubte Buchrücken im Wandregal, leicht zerfleddert und verblasst, bis mir in den verregneten Sommerferien auf der Suche nach Lesestoff Das siebte Kreuz in die Hände fiel. Damit war, als wir für die Reihe von Buchvorstellungen jeweils ein besonders empfehlenswertes Werk aussuchen sollten, die Wahl für mich schnell gelaufen. Na ja, Sie selbst wären heute über ein Jahrhundert alt; die Erstausgaben sind vergilbt; und doch, Das siebte Kreuz wirkt wie frisch gezimmert und genagelt. Erst bei den Recherchen erfuhr ich dann mehr, über Sie und auch, dass die Germanisten sich nach der Wende zum Teil erbittert stritten über Ihren endgültigen Säulenplatz in den heiligen Hallen der deutschen Literatur. Freut es Sie zu hören, dass der sprachgewaltige Kritiker Marcel Reich-Ranicki ...
A.S.: Oh, dieser Literaturkenner ist nicht gerade ein Freund von mir...
C.B.: ... dass eben dieser vielen von Bildschirm und Werbung her bekannte Bücherpapst Sie in seinem kürzlich vorgestellten Schulkanon vertreten sehen möchte? Gleich zwei Ihrer Bücher reiht er in diese Hitliste von hundert Werken ein, die seiner Meinung nach jeder spätestens bis zum Abi gelesen haben sollte: Das siebte Kreuz und die Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen.
A.S.: Alle Schriftsteller wollen gelesen werden. Wer schreibt schon gerne für den Reißwolf? Aber gerade von Reich-Ranicki hatte ich zu meinen Lebzeiten ganz andere Töne gehört. 1) Textänderung für "Ernst&Albern", Schülerzeitung des Ernst-Alban-Gymnasiums, Ausgabe Ostern 2002
C.B.: Heben wir uns seine Musik für später auf. Zunächst die allernötigsten Infos über Ihre Person. (Zum Publikum gewandt:) Frau Netty Reiling, später bekannt unter dem Pseudonym Anna Seghers, wurde am 19. November 1900 in Mainz geboren, studierte Geschichte sowie Kunstgeschichte und promo-vierte in Heidelberg. 1925 heiratete sie den ungarischen Soziologen László Radványi. Obwohl sie aus einem wohlhabenden jüdischen Elternhaus stammte, trat sie 1928 in die KPD ein. Im gleichen Jahr veröffentlichte sie die Erzählungen Aufstand der Fischer von Sankt Barbara und Grubetsch, für die sie 1928 den Heinrich-Kleist-Preis erhielt, damals die höchste deutsche Literaturauszeichnung. Nach kurzer Inhaftierung 1933 floh sie mit ihrer Familie nach Paris, später nach Spanien und zuletzt auf dem Umwege über New York nach Mexiko. Dort erschien 1942 ihr wohl bekanntestes Werk, der heute von mir als Lektüre empfohlene Roman "Das Siebte Kreuz".
A.S.: So könnte man es auf einem Klappentext lesen. Nur, ein Punkt stimmt nicht ganz, junger Mann. Seit Juni 1939 bereits wurde "Das Siebte Kreuz" in Fortsetzungen in der Moskauer Exilzeitschrift "Internationale Literatur" abgedruckt. Doch wegen des Nichtangriffspaktes von Hitler und Stalin vom August 1939 wurde nach den ersten beiden Kapiteln abrupt abgebrochen. Es erscheint mir nämlich wichtig, darauf hinzuweisen, dass ich dieses Werk, dem ich den Untertitel "Ein Roman aus Hitlerdeutschland" gegeben habe, schon vor (!) dem Ausbruch des 2. Weltkriegs abgeschlossen hatte.
C.B.: Warum liegt Ihnen so viel daran, darauf hinzuweisen?
A.S.: Weil von vielen, besonders jungen Menschen, das Dritte Reich nur nach seinen Verbrechen im 2. Weltkrieg beurteilt wird. Die Untaten begannen aber gleich nach Hitlers Machtergreifung. Erste Konzentrationslager für politische Gefangene wurden nämlich bereits im Februar 1933 errichtet.
C.B.: Womit wir schon mitten im Geschehen Ihres Romans wären, über dessen Inhalt natürlich nur ein Spielverderber allzu viel verriete. (Zum Publikum:) Soviel vorweg: Die Story ist voll "action", Spannung ist garantiert - obwohl, ich fürchte, wer sich täglich "seine Soap reinzieht", den packt beim ersten Blättern schon die große Gähne.
A.S.: Warum so streng? Für Lesemuffel gab es schon kurz nach Erscheinen den Roman auch als Comicstrip.
C.B.: Und als Film. Doch davon später, wir sind immer noch den Inhalt schuldig! (Zum Publikum): Im Herbst des Jahres 1937 gelingt sieben Häftlingen die Flucht aus dem Konzentrationslager Westhofen am Rhein. Der sadistische Lagerkommandant Fahrenberg lässt aus Rache und zur Abschreckung der anderen Inhaftierten auf dem Appellplatz sieben Kreuze an gekuppten, also ihrer Kronen beraubten Platanen errichten, an die er die eingefangenen Flüchtlinge binden und zu Tode quälen will. Tatsächlich gelingt es der Gestapo sehr schnell vier der Ausbrecher einzufangen, die dann auch hingerichtet werden. Nach sechs Tagen befindet sich nur noch der völlig erschöpfte Georg Heisler auf freiem Fuß – unterstützt von Gesinnungs-genossen und ehemaligen Freunden, die ihm Obdach gewähren. Diese hilfsbereiten Menschen riskieren damit ihr eigenes Leben und das ihrer Familien und Bekannten. Das bis dahin einzig freigebliebene siebte Kreuz wird für die Gefangenen des Lagers, ja überhaupt für alle Gegner des Regimes zum Symbol der Hoffnung; den Machthabern führt es die eigene Ohnmacht und Verwundbarkeit vor Augen. (Zu Frau Seghers gewandt): Es wurde immer wieder bewundert, wie realitäts-nah Sie die Situation in Hitlerdeutschland aus dem Exil heraus gezeichnet haben. Der Leser, so heißt es, erkennt nicht nur Land und Leute im Rheinland wieder, erfährt auch die Wirklichkeit eines Konzentrationslagers am Beispiel Westhofen dank präziser Charakterbeschreibung der Wächter und der Inhaftierten. Woher hatten Sie im Ausland, also ohne eigene Anschauung, diese Detailkenntnis?
A.S.: In der Tat haben viele Leser hinter meinem Lager Westhofen rasch das reale Internierungslager Osthofen vermutet, das von der SA bereits in den ersten Märztagen 1933 in der Nähe meiner Heimatstadt eingerichtet worden war. Befreundete Kommunisten, die ich im französischen Exil traf, und anfangs auch deutsche Tageszeitungen, die es in Paris durchaus noch zu kaufen gab, haben mich auf dem Laufenden gehalten über das, was in Deutschland passierte.
C.B.: Apropos Zeitungen. Für diejenigen, die behaupten, es sei zu Beginn des Dritten Reiches "alles nicht so schlimm" gewesen und die Bürger hätten nichts gewusst, hier auszugsweise ein Bericht aus der Mainzer Tageszeitung vom 12. April 1933 unter der Überschrift "Zur Erziehung nach Osthofen": Dieser Tage fand eine Generalreinigung von marxistischem Ungeziefer in hiesiger Gemeinde und in Gimbsheim statt... Jahrelang konnte die marxistische und kommunistische Meute ... wüten ... so blieb es nicht aus, dass die Hilfspolizei in Verbindung mit Kriminalbeamten im Laufe des heutigen Vormittags eine gründliche Durchsuchung in den Gehöften verdächtiger Kommunisten und Marxisten vornahm. Eine große Anzahl roter Subjekte wurde in Haft genommen. In Guntersblum waren es in erster Linie marxistische Weinjuden, die hinter den Kulissen schürten."
A.S.: Wer schürte hier? Solche Sprache war es doch, die erst im Volke den erwünschten Hass auf Juden und alle politischen Gegner schürte. In ihr entlarvte sich die ganze Menschenverachtung des Systems.
C.B.: Aber kein Historiker hat bisher die Geschichte von dem siebten Kreuz verifizieren können, weder in Osthofen noch sonst wo. Eine literarische Erfindung?
A.S.: Ein Schriftsteller würde sich ja kaum von einem Journalisten unterscheiden, wenn er eine Begebenheit nur nacherzählen würde. Ganz vage erinnere ich mich, dass ein ehemaliger Häftling mir von seinem Lagerkommandanten erzählte, der auf die Idee mit solchen Kreuzen gekommen sei.
C.B.: Sie haben in früheren Interviews darauf verwiesen, dass sich hinter Ihrer fiktiven Hauptfigur Georg Heisler auch die Fluchtgeschichten von politischen Freunden aus dem Exil widerspiegeln.
A.S.: Ja und nein. Ich hatte Berichte von Flüchtlingen aus Oranienburg und Dachau gelesen. Die korrekte Beschreibung der Lagerwirklichkeit jedoch gelingt nicht allein durch detailgetreue Wiedergabe, sondern durch einfühlsame Gestaltung der Atmosphäre.
C.B.: Und durch treffsichere Charakterisierung der Hauptpersonen. Hier ist nichts klischeehaft überzeichnet. Georg Heisler, die zentrale Figur, wird nicht als rundum positiver, unbesiegbarer Held dargestellt, nicht einmal so vorbildlich wie sein Freund Wallau. Früher lebenslustig und auch leicht-sinnig, zeichnet ihn erst auf der Flucht ein zäher Überlebenswille aus. Je stär-ker er selbst gefährdet ist, umso mehr entwickelt er jedoch Verantwortungs-bewusstsein auch für andere, besonders jene, die als Fluchthelfer in Frage kommen, der jüdische Arzt, der Pfarrer, die Kellnerin Toni, seine Schul-freunde Paul und Franz, Gesinnungsgenossen, aber auch politisch Anders-denkende. Die meisten von ihnen handeln nicht aus irgendwelchen ideologischen Motiven heraus, sondern eher emotional und aus moralischen Gründen. Nicht eine politische Organisation oder die Partei, wie es die kommu-nistische Propaganda später gerne gesehen hätte, helfen dem Flüchtenden, sondern einfache Menschen setzen ihr eigenes Leben aufs Spiel. Sie alle sind ständig durch den Terror der Häscher bedroht. Frau Seghers, dennoch ist der Grundtenor Ihres Romans nicht Verzweiflung, sondern Zuversicht. Die starke Verbundenheit mit der Heimat, die aus Ihren Zeilen spricht, vermittelt Vertrauen. Erinnerungen an Märchen, Mythen und Legenden, an religiöse und magische Symbole verstärken dieses Grundgefühl. Der schon erwähnte Reich-Ranicki kanzelte wohl deshalb früher einmal Ihren Roman als "religiöse Geschichte" ab und rückte sie sogar in die "Nähe zum alten christlichen Märtyrerdrama".
A.S.: Mythen und Märchen zu verarbeiten habe ich mich nie gescheut. Wenn Mythen schon nicht wahr sind, so sind sie jedenfalls ungeheuer wirksam. An einem Mythos können sich Menschlichkeit und Gerechtigkeit stärker entzünden als an einer rationalen Analyse von Geschichte und Gegenwart.
C.B.: Sieben Schöpfungstage in der Bibel, in Ihrer Geschichte sieben Fluchttage und sieben Kreuze. Warum haben Sie, eine Jüdin, quasi als novellistisches Symbol, ausgerechnet das christliche Kreuz gewählt?
A.S.: Das Symbol des Kreuzes habe ich ja in erster Linie als Schriftstellerin gewählt, weniger als Jüdin. Gewiss, ich kann und will meine jüdischen Wurzeln nicht leugnen. Doch ich habe mich bei Recherchen zu vielen meiner Erzählungen auch mit christlichen Traditionen befasst. Das Rhein-Main-Dreieck, in dem ich die Geschichte angesiedelt habe, ist seit den Tagen eines Bonifatius christlich geprägt; auch der Mainzer Dom spielt deshalb als Zufluchtsort für Georg eine gewisse Rolle.
C.B.: Im Dom findet Georg für kurze Zeit Schutz vor seinen Verfolgern, aber auch ein gewisses Maß an Trost. Einige Bilder wecken in ihm längst vergessene Erinnerungen, Bilder an den Wänden oder auch Szenen in einem zufällig beleuchteten Glasfenster, Bilder vom Paradies, von der Krippe oder vom letzten Abendmahl. An dieser Stelle schreiben Sie: "Alles, was das Alleinsein aufhebt, kann einen trösten. Nicht nur was von andern gleichzeitig durchlitten wird, kann einen trösten, sondern auch was von andern früher durchlitten wurde." 2) Für Christen ist der Kreuzestod von Jesus bekanntlich ein Zeichen der Erlösung. Für Sie jedoch ...
A.S.: ... ist Georg bestimmt keine Jesus-Figur. Zwar ist auch mein Kreuz ein Zeichen der Hoffnung, doch nur insoweit, als Hoffnung vorhanden ist, solange das für ihn gedachte siebte Kreuz frei bleibt.
C.B.: Danke fürs Stichwort. Ihr Begriff Hoffnung erleichtert mir den Übergang zum zweiten Teil Ihres Lebens, den wir noch nachreichen müssen. (Zum Publikum gewandt:) Frau Seghers kehrte erst 1947 ins zerbombte Deutschland zurück und zwar nach Ostberlin. 1951 erstmals Nationalpreis der DDR und Stalin-Friedenspreis; 1959 Ehrendoktor der Universität Jena, 1977 der Universität Mainz; 1975 Ehrenbürgerin von Ostberlin, 1981 von Mainz. 2) Die letzten 15 Zeilen wurden später leicht geändert, um neuere Forschungsergebnisse zu berücksichtigen. Sie starb, von solchen Ehrungen überhäuft, nach langer, schwerer Krankheit am 1. Juni 1983 in Berlin. "Sie ist alt geworden...", sagte später ein Schriftstellerkollege, schließt dann jedoch einen missverständlichen Nachruf an, "...aber Gott sei Dank hat sie die Wende und die Schmähungen nicht mehr erlebt." Um diesen Satz zu erläutern, blenden wir zum Siebten Kreuz zurück. Im Schlusskapitel findet sich ein Passus, den am besten Frau Seghers selbst vorlesen sollte. Darf ich bitten?
A.S. (zitiert): "Vielleicht ist Fahrenberg (zum Publikum: der Lagerkommandant) die Treppe heraufgefallen und hat noch mehr Macht bekommen. Das alles wussten wir damals noch nicht. Später waren so viele Dinge passiert, dass man nichts mehr genau erfahren konnte. Wir hatten zwar geglaubt, mehr könnte man nicht erleben, als wir erlebt hatten. Draußen stellte es sich heraus, wie viel es noch zu erleben gab."
C.B.: Gemeint sind natürlich die Schrecknisse des Zweiten Weltkrieges, der sich am Horizont abzuzeichnen begann.
A.S.: Darf ich weiterlesen? Der Roman endet: "Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äußeren Mächte in den Menschen hineingreifen können, bis in sein Innerstes, aber wir fühlten auch, dass es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar."
C.B.: Unverletzbar, gemeint sind gewiss: Menschlichkeit und Sinn für Gerechtigkeit. Diese beiden Begriffe sind in all Ihren Romanen und Erzählungen wie Hoffnungsanker präsent. Umso tiefer muss es Sie geschmerzt haben, als Sie kurz nach Erscheinen der ersten Ausgabe des Siebten Kreuzes vom gewaltsamen Tod Ihrer Mutter in einem Nebenlager von Auschwitz erfuhren. Wenig später, 1944, kam Fred Zinnemanns Verfilmung Ihres Romans, The Seventh Cross, in die amerikanischen Kinos, erst viel später natürlich nach Deutschland. Wie fanden Sie den Film?
A.S.: Man hat glücklicherweise auf eine zu starke Amerikanisierung verzichtet. Ein paar hinzugeschriebene Auftritte der Gestapo und eine Verfolgungsjagd durch Mainz erhöhen sogar die Spannung, wenn man so will. Und die Schauspielkunst eines Spencer Tracy in der Rolle des Georg trägt über kleinere Mängel hinweg.
C.B.: 1944 war Ihnen dann mit Transit ein weiterer großer Wurf gelungen. Ich erwähne diesen Roman jetzt aber nur wegen eines bestimmten, immer wiederkehrenden Motivs. Er schildert die Geschichte von den Gehetzten und Verfolgten aus ganz Europa, die 1940 in Marseille verzweifelt um Schiffs-passagen kämpfen. Die Chancen, den Nazis zu entkommen, werden von Tag zu Tag geringer. Jeder hat nur die rettenden Schiffe im Auge, Schiffe, die vielleicht nie auslaufen. Schiffe, es muss Sie etwas Besonderes fasziniert haben an diesem Motiv! Schiffe, wohin man blickt in Ihren Werken, ob in den Erzählungen Überfahrt und Argonautenschiff oder im eingangs erwähnten Ausflug der toten Mädchen, wenn eine Schulklasse eine Fahrt auf einem Rheindampfer unternimmt. Auch auf Georg Heisler wartete schließlich ein Schiff, das für ihn vielleicht die Freiheit bedeuten konnte.
A.S.: Worauf wollen Sie hinaus?
C.B.: Ich bitte um ein wenig Geduld. Trotz Ihrer großen Erfolge, die Ihnen ein Leben im Ausland gesichert hätten, waren Sie nach Deutschland zurück-gekehrt, was keineswegs selbstverständlich war. 1949 erhielten Sie in Darmstadt den hessischen Georg-Büchner-Preis. Danach wurde es aber im Westen Deutschlands geraume Zeit auffällig still um Ihre Person – Sie hatten sich nämlich für den Verbleib in der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR entschieden. Schon 1948 wurden Sie Vizepräsidentin des "Kultur-bundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands", 1952 Präsidentin des frisch gegründeten "Deutschen Schriftstellerverbandes der DDR".
A.S.: Das klingt wie ein Vorwurf.
C.B.: Man kreidete Ihnen in der Zeit des Kalten Krieges im Westen und später nach der Wende auch im Osten an, als Repräsentantin der Kulturpolitik der DDR zu loyal gegenüber der Partei und den Machthabern gewesen zu sein. Ja, es gab Stimmen, die warfen Ihnen "Gesinnungsliteratur" vor.
A.S.: Mit Vorwürfen, die nicht treffen, kann man gut leben.
C.B.: Was ist aber mit Vorwürfen, die nicht vorbeigehen? Ich will aus den vielen nur zwei Beispiele herausgreifen, ohne dabei, ich verspreche es, das Siebte Kreuz aus den Augen zu verlieren. Spätestens nach der Errichtung der Mauer im August 1961 hat die sogenannte freie Welt der DDR-Führung vorgeworfen, das ganze Land in ein einziges KZ verwandelt zu haben. Den Bürgern sollte durch Stacheldraht und Minen eine Flucht unmöglich gemacht werden. Schon in den ersten Wochen nach Errichtung des "antifaschistischen Schutzwalls", wie auch Sie die Mauer nannten, starben junge Menschen auf der Flucht im Kugelhagel der Grenzsoldaten. Am 14. August schrieb der spätere Nobelpreisträger Günther Grass, der damals in Westberlin lebte, einen offenen Brief an Sie, die Vorsitzende des Schriftstellerverbandes: "Ihr Buch, das siebte Kreuz, hat mich geformt, hat meinen Blick geschärft... Die Angst Ihres Georg Heisler hat sich mir unverkäuflich mitgeteilt; nur heißt der Kommandant des Konzentrationslagers heute nicht mehr Fahrenberg, er heißt Walter Ulbricht und steht Ihrem Staat vor."
A.S.: Wie könnte ich das vergessen! Grass forderte mich auf, ich möge "als schwache und starke Frau" meine "Stimme beladen und gegen die Panzer, gegen den gleichen, immer wieder in Deutschland hergestellten Stacheldraht anreden, der einst den Konzentrationslagern Stacheldrahtsicherheit gab." Ich stelle seine Zeilen dem offenen Brief eines anderen späteren Nobel-preisträgers, Heinrich Böll, der sich der Forderung von Günter Grass nicht anschließen mochte, gegenüber. Für ihn, im Westen, gehöre nicht der geringste Mut dazu, das Selbstverständliche zu sagen, dass er gegen die Mauer sei, froh über jeden, dem die Flucht gelänge. Und Böll fährt fort: "Ich habe nicht den Mut, die Menschen, die in der Zone bleiben müssen, zum Aufstand, zum Selbstmord aufzufordern und ihnen Tag für Tag die geschichtliche Wahrheit einzuhämmern, die sie in politischer Münze bezahlen müssen: dass offenbar sie es sind, die den verlorenen Krieg für uns, die Bundesrepublikaner, mit zu bezahlen haben." Ich habe mich an den erbitterten Diskussionen in den Feuilletons damals und später nicht beteiligt.
C.B.: Warum? Vielleicht wartete ja wirklich ein Georg Heisler auf Ihre Hilfe?
A.S.: Ich habe mich bei diesen und ähnlichen Gelegenheiten immer wieder gefragt, was zu tun und was zu lassen sei, und bin immer zu demselben Schluss gekommen, dass ich nämlich die Hoffnung auf Verwirklichung meines Ideals nie aufgeben dürfe. Der Partei in den Rücken fallen, hätte das nicht geheißen, meine Maximen zu verraten? Unschwer erkennt man ja in meinem Leben den roten, kommunistischen Faden. Meine Heimat war nun nicht länger Mainz am Rhein, sondern dort, wo man versuchte, eine gerechtere Welt aufzubauen, dort, wo der Sozialismus eine Chance bekam. Natürlich habe ich erkannt, wie sehr die Wirklichkeit...
C.B.: Sie meinen den real existierenden Sozialismus?
A.S.: Ja, wenn Sie es so nennen wollen... Wie sehr also diese Wirklichkeit sich vom Ideal der Menschlichkeit entfernte... Aber ich habe dieses immer als Versagen einzelner Personen, auch einzelner Machthaber gesehen, und Zweiflern unter den Gefährten wollte ich mit Standhaftigkeit gegenübertreten.
C.B.: Standhaftigkeit kann auch etwas mit Starrsinn zu tun haben. Muss man sich nicht auch wandeln können, wenn die Umstände sich ändern? Es muss ja nicht gerade eine Kehrtwende sein. Wolf Biermann ...
A.S.: Hat er auch mit unserem Thema zu tun?
C.B.: Ich denke schon. Er ist mein zweites Beispiel im deutschen Drama um Flucht und Vertreibung. (Zum Publikum): Wolf Biermann ist in der DDR in jungen Jahren als Lyriker bekannt geworden, ein Liedermacher, manche sagen auch Bänkelsänger. Er wurde, obwohl er sich eindeutig zum Kommu-nismus bekannte, als DDR-Oppositioneller 1976 gegen seinen Willen ausgebürgert; man ließ ihn nach einem Konzert, das er in Köln gegeben hatte, einfach nicht mehr ins Land. (Zu Frau Seghers:) In Ost und West wurde aufmerksam registriert, dass Sie die Protestnote Ihrer Schriftstellerkollegen an das Zentralkomitee nicht unterschrieben haben. Mir unverständlich, denn wie Sie selbst einst von den Nazis wurde nun Biermann quasi ins Exil gezwungen. Der Verdacht, dass Sie nun endgültig zu den Hardlinern gehörten, ...
A.S.: Es war ein Schock für mich! Ich lag in jenen Wochen im Krankenhaus. Wohl um mich zu schonen, so wurde später gesagt, habe man mir das Papier gar nicht erst zur Unterschrift vorgelegt. Ich kann es nicht beweisen, aber ich hätte mit Sicherheit unterschrieben. Ich weiß, ich weiß: Die unterschrieben hatten, widerriefen Tage später allesamt.
C.B.: Schon Galilei wollte nicht auf den Scheiterhaufen.
A.S.: Sind Sie nicht zu jung, um so zynisch über fehlenden Heldenmut zu richten?
C.B.: Ich maße mir kein Urteil darüber an, glauben Sie mir bitte. Ich will nur die Autorin, die Das siebte Kreuz verfasste, irgendwie verstehen. Wie soll ich denn Ihr Werk guten Gewissens empfehlen, wenn ich von seiner Glaubwürdigkeit nicht völlig überzeugt bin? Das schließt den Autor doch mit ein!
A.S.: Ich habe immer die Meinung vertreten, dass ein Autor nur durch seine Werke sprechen soll.
C.B. Aber Sie waren auch Sprecherin im Schriftstellerverband, waren doch als dreimalige Nationalpreisträgerin der DDR so gut wie unantastbar.
A.S.: Und in dieser Eigenschaft habe ich zum Beispiel manches für unter Druck geratene Kollegen erreicht. Nicht mit großem Getöse und Pressegeschrei, sondern in persönlichen Gesprächen mit den Führern des Landes.
C.B. Aber Sie haben auch die offizielle Politik der DDR unterstützt und ständig um "Vertrauen" in die Partei geworben, ich erwähne nur den 17. Juni, den Aufstand in Ungarn und den Einmarsch in die Tschechoslowakei. Oder Sie haben eisern geschwiegen, wo man auf Ihre Stimme gehofft hatte. Ist es da nicht verständlich, dass man Sie nach der Wende, als herauskam, wann und wo überall Sie geschwiegen hatten, besonders im Osten "schmähte", wie jener Kollege meinte? Mit dem Siebten Kreuz hatten Sie uns allen ein Mahnzeichen aufgerichtet. War der Anspruch zu hoch, dass Sie ihm selbst nicht genügen konnten? "Meine Mutter war keine Heilige!", schrieb Ihre Tochter Ruth. Aber voll Verständnis schilderte sie auch, wie Sie nach Biermanns Rausschmiss heimlich weinten.
A.S.: Glauben Sie wirklich, es hätte etwas genutzt, wenn ich öffentlich aufbegehrt hätte? So stark war meine Position nie gewesen.
C.B.: Offenbar hatten sich viele von Ihnen mehr erhofft. Nur, eines ist mir beim Vorstudium zu diesem Interview auch klar geworden: die Hoffnungen des einen decken sich selten mit den Erwartungen des anderen. Manchmal erkennen wir Georg Heisler nicht, selbst wenn er an unserer Türe klingelt! Die Debatten um Ihre Person waren nach der Wende besonders im Osten oft selbstgerecht und überzogen. Eifrig wurden Schulen, die Ihren Namen trugen, umgetauft. Den Vogel schoss jedoch einmal mehr Reich-Ranicki ab, als er das Gerücht verbreitete, dass man in Mainz die Anna-Seghers-Straße umbenennen wolle. Nur: Eine Straße dieses Namens hatte es dort nie gegeben. Erinnern wir uns noch mal an jenen Kollegen, der da sagte, Sie hätten Gott sei Dank die Wende nicht mehr erlebt. Ob er glaubt, Sie hätten, gebrechlich wie Sie in den letzten Lebensjahren waren, das Scheitern des Kommunismus nicht verkraftet?
A.S.: Ich war überzeugt, wir hätten die bessere Idee.
C.B.: Jede echte Überzeugung, wenn sie nur stark genug ist, birgt eine Gefahr in sich. Dass man nämlich Unrecht, welches man bekämpfen will, auf seiner Seite duldet, um der eigenen Idee zum Siege zu verhelfen. Frau Seghers, kennen Sie Caspar David Friedrichs Bild "Die gescheiterte Hoffnung"?
A.S.: Ich war Kunsthistorikerin.
C.B.: Sorry. (Zeigt den Zuhörern eine Reproduktion des Gemäldes): Ein Schiff, das sich Hoffnung nannte, zerschellt an Eisbergen. Ein Bild von beklemmender Trostlosigkeit. Wer genau hinschaut, entdeckt, dass das Grab, welches das Schiff fand, die eisige Natur, selbst einem Schiff unter vollen Segeln gleicht. Frau Seghers, alle Ihre Fotos aus den letzten Lebensjahren, die ich bei meinen Recherchen zum Siebten Kreuz zu Gesicht bekam, zeigen Sie verschlossen, mit strengen Zügen, so wie auf dem Foto des Handzettels, im hohen Alter oft sogar verbittert und verhärmt. Nachdem Sie "ohne Illusionen", wie Sie einmal sagten, nach Deutschland zurückgekehrt waren, beklagten Sie doch bisweilen die Empfindung von Kälte und Fremde. In einem Brief an einen Freund aus dieser Zeit heißt es aufschlussreich: "...habe ich doch manchmal das Gefühl, dass ich vereise. Ich habe das Gefühl, ich bin in die Eiszeit geraten, so kalt kommt mir alles vor." Frau Seghers, hatten Sie vielleicht damals schon gespürt, dass Ihre Hoffnung, das Schiff mit Namen Sozialismus, ins Eis geraten und vielleicht scheitern könnte?
A.S.: Ich habe die Vorstellung eines Scheiterns immer verdrängt. Bis zuletzt hatte ich das berühmte Fünkchen. Im Exil ist die Hoffnung, die einen aufrecht hält, so schwankend wie die Planken eines Schiffes. Vielleicht tauchen deshalb so viele Schiffe bei mir auf. Die Hoffnung, mit der man zurückkehrt, ist nicht dieselbe. Man krallt sich verbissen am Boden fest.
C.B.: Georg Heislers Hoffnung gründete sich auf ein Schiff. Wenn ihm die Flucht gelänge, wollte er nach Spanien, zu den Internationalen Brigaden, in deren Reihen viele Kommunisten kämpften und fielen. Seitdem ist viel geschehen. In der Zwischenzeit hat uns die Geschichte gelehrt, dass Ihre Gleichung, Kommunismus ist Menschlichkeit plus Gerechtigkeit, nicht aufging.
A.S.: Damit ist meine Hoffnung wohl doch gescheitert.
C.B.: Sie haben im Siebten Kreuz die Begriffe Kommunismus und Sozialismus tunlichst vermieden.
A.S.: Ich habe damals damit ausdrücken wollen, dass Menschlichkeit ein allgemein gültiges Ideal ist, das nicht von einer Seite vereinnahmt werden sollte. Dem ist auch heute nichts hinzuzufügen!
C.B.: In diesem Sinne kann Ihr Roman Das siebte Kreuz nie seine Gültigkeit verlieren. Weshalb wir ihn lesen sollten. Unbedingt. Ohne Wenn und Aber. Frau Seghers, wir danken Ihnen für das Gespräch.
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