Julia Gottschalk, Klasse 12, Gymnasium Carolinum Neustrelitz
„Wer wäre ich, wenn…?“
"Wer bin ich wirklich? Und wer bist du?" lautet die Textzeile eines populären Radiohits. Scheinbar sind viele Menschen an der Klärung einer solchen Frage interessiert, die durch die fordernde Verwendung eines Interrogativpronomens die hintersten Winkel der eigenen Seele erforschen soll. Schon viele Male in unserem Leben haben wir diese Thematik mit uns selbst erörtert, haben uns kritische Fragen hinsichtlich unserer Persönlichkeit gestellt, dachten, wir hätten alles erkannt und könnten uns perfekt einschätzen - bis etwas Unerwartetes geschieht, unser mühsam konstruiertes Gedankengerüst plötzlich bedenklich schwankt, unter Erzeugung eines scheppernden Geräusches zusammenbricht und wir völlig allein in einem gigantischen Gedankenchaos stehen. Und uns fragen, wie wir jemals mit arroganter Naivität annehmen konnten, uns selbst mit allen Facetten zu kennen. Manchmal scheint es ganz einfach zu sein. Dann geht man in sich und weiß: Ich bin ich. Ich bin ein Mädchen von 18 Jahren, ich bin gesund und darf in Wohlstand leben. Schon das ist nicht selbstverständlich. Manchmal wird mein Leben auch von Problemchen überschattet. Oder bereichert. Je nachdem, wie man es sehen will. Soweit ganz simpel. Und das soll meine Persönlichkeit beeinflussen? Daran muss mein Charakter sichtbar werden? Kann das alles sein? Wohl kaum. Denn da ist immer noch die Gesellschaft, die uns mit Zuckerbrot und Peitsche Freiheiten offenbart und gleichzeitig ankettet. Ja, ich bin durch die Gesellschaft geprägt! Doch heißt das automatisch, dass ich ein facebooksüchtiger Teenie bin, der an einem jeden Tag stundenlang Medien konsumiert, hunderte virtuelle Freunde hat, die er auf der Straße nicht einmal erkennen würde, der sein intimstes Privatleben auf eine Tastatur einhämmernd der ganzen Welt preisgibt und sonst kaum ein "Guten Morgen!" aus den fast zusammengewachsenen Kiefern herausgepresst bekommt? Nein, noch kann ich mich in diesen Persönlichkeitsstrukturen nicht erkennen. Und doch bin ich durch mein soziales Umfeld geprägt. Da ist zum einen der Erguss der Wohlstandsgesellschaft, die mir suggeriert, dass ich mehr Bedürfnisse habe als bloß den Wunsch des nackten Überlebens. Ich hätte die Möglichkeit noch komfortabler, authentischer oder attraktiver zu debauchieren auf Kosten derjenigen, die weit weg um ein hässliches Dasein kämpfen. Die Optionen seien unbegrenzt, nur, so wie es jetzt ist, darf es auf keinen Fall bleiben, denn das liegt überhaupt nicht im Trend. Weiterhin manipuliert mich die Ellbogengesellschaft. Nächstenliebe ist out. Egoismus ist in. Mein eigener Vorteil ist weitaus wichtiger als die Bedürfnisse meiner Mitmenschen. Warum helfen? Zuschauen und sich visuell am Unglück anderer weiden macht viel mehr Spaß. Der beste Witz wird auf Kosten des anderen gerissen. Zwischenmenschliche Beziehungen werden nur aus Berechnung eingegangen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Bis die eigene Kraft nachlässt. Und man auf Gnade derjenigen hoffen muss, die, arrogant herablächelnd, an den Schwächeren vorüberziehen. Natürlich tröstet man sich beständig mit der robusten Naivität, all das würde unserem geschulten Auge und wachsamen Herzen nicht entgehen und niemals eine Kerbe in das Standbild unserer Persönlichkeit meißeln. Und dann ertappt man sich dabei, unbedingt einen Blick auf den Unfallort werfen zu wollen, dem sich soeben zwei Krankenwagen nähern, um die Toten und Verletzten aus dem ausgebrannten Autowrack zu bergen. Oder dass man dem besten Freund nur noch mit halbem Ohr zuhört, wenn dieser seine Nöte beklagt und stattdessen lieber die eigenen Anliegen genüsslich ausbreitet. Der Zufall der Geburt entscheidet, in welchem sozialen Umfeld wir aufwachsen und wer wir schließlich sind. Somit stellt sich die Frage: Wer wäre ich, wenn ich in eine andere Situation hineingeboren worden wäre? Wer wäre ich, wenn ich mit einer Behinderung auf die Welt gekommen wäre? Wie würde ich mit dem "Makel" umgehen, niemals so unbeschwert wie andere Kinder spielen gekonnt zu haben? Immer etwas "anders" oder "fremdartig" zu sein? Würde die leise Distanz, die andere Menschen zu mir halten, scheinbar, weil sie meinen, ich wäre kein Mensch wie sie auch und deshalb von einem Angstgefühl beklemmt sind, weh tun? Entstünde eine Niedergeschlagenheit, wenn man sieht, wie leicht anderen die Handgriffe fallen, die ich planen und strukturieren muss, damit sie mir gelingen? Wer wäre ich, wenn mir plötzlich in meinem jungen Leben offenbart werden würde, dass ich an einem Karzinom leide und nur noch wenige Monate zu fristen habe? Setzte ich meine Prioritäten in einem solchen. Fall anders? Entstünde Verbitterung im Herzen oder doch die Erkenntnis, dass alles im Leben vergänglich ist, außer die Dinge, die man liebend vollbracht hat? Würde deshalb der Wunsch reifen, noch den Frieden mit den Mitmenschen zu machen? Schienen nicht dann die vorher noch erdrückenden Sorgen des Alltags klein und nichtig? Wer wäre ich, wenn ich in einer anderen Epoche der Geschichte das Licht der Welt erblickt hätte? Wie wäre ich geprägt, wenn ich meine Jugend in der Zeit Karls des Großen erleben hätte müssen? Könnte ich hinnehmen, dass der Mann dem höheren Geschlecht angehört und ich ihm als Frau stets zu Diensten sein muss, ohne seine Absichten kritisch zu hinterfragen? Würde ich dem angeblich wissenschaftlichen Nachweis zustimmen, dass anscheinend nur ein so kleiner Teil des weiblichen Gehirns zu gebrauchen sei, dass es nicht zum Lesen- und Schreibenlernen reiche? Blickte ich mit Freude in die Zukunft, die mir im besten Fall einen Ehemann brächte, der vielleicht die Gnade hätte, mir gegenüber nicht handgreiflich vorzugehen, eine große Kinderschar sowie einen Versorgungspflichten bringenden Hof und Haushalt? Schlichen sich Rebellionsgedanken in meine Wahrnehmung ein? Hätte ich den Mut aufzubegehren und könnte zeigen, dass Männer nicht von Natur aus die Überlegeneren sind? Ertrüge ich als Konsequenz die Demütigungen, die mir von einer männerdominierten Gesellschaft entgegengebracht werden würden, aus Angst, die Herren der Schöpfung könnten ihren Leitstatus verlieren? Oder ginge ich den Weg des geringsten Widerstandes und glaubte, intellektuelle Betätigung von Frauen führte zu einer Verkleinerung ihrer Gebärmutter? Wer wäre ich, wenn ich meine Jugend im Zeitalter des Nationalsozialismus durchlebt hätte? Schenkte ich einem Schreihals mit Bärtchen und kantigen Bewegungen Glauben, wenn er Leute, die ich vorher nie als besonders auffällig erachtet habe, plötzlich als "Volksschädlinge" bezeichnet? Fühlte ich mich als ein Mensch der auserkorenen Rasse? Könnte ich das Überlegenheitsgefühl spüren und mich stark, ja fast unbesiegbar fühlen? Hätte ich alle meine moralischen sowie ethischen Bedenken über Bord geworfen und mich ganz dem Siegestaumel der ideologischen Bestimmung hingegeben? Hätte ich auch verhöhnt? Geschlagen? Geschossen? Oder, viel einfacher, den Gashahn aufgedreht? Erschreckende Zwänge der Gesellschaft! Doch, wie war es, wie ist es, wie wird es sein? Zukunftsvisionen des "Ichs" erscheinen zunächst simpler. In zahllosen Plänen aufgearbeitet und verworfen, konstruiert der Mensch sein zukünftiges Leben. Zuerst verläuft alles streng nach Konzept, um dann, welch ein Ärgernis, in eine ganz andere Richtung abzudriften. Und doch fragt man nach der Zukunft. Wer bin ich in zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren? Eine studierte Persönlichkeit in einem angesehenen Beruf, die sich ihre Bedürfnisse ohne das dreimalige Herumdrehen eines jeden Münzenstückes erfüllen kann? Oder eine gescheiterte Existenz, gemartert in der Gegenwart und von einer Zukunftsphobie gequält? Finde ich noch Liebe und Geborgenheit, die die Rückschläge des Lebens elegant abfedern? Oder friste ich mein Dasein in einer Single-Gesellschaft, die sich am eigenen Egoismus wärmt? Werden die Menschen noch zwischenmenschlich kommunizieren oder hat der Homo sapiens sapiens diese Aufgabe bis dahin an eine technische Innovation abgetreten, die den Blick in die Augen des Gegenübers erspart? Ist er noch fähig, Bücher zu lesen und zu schreiben oder drückt sich eine verdummte Gesellschaft aus Bibliophoben die Nase an einer Vitrine platt, in der grelles Scheinwerferlicht auf die aufgeschlagenen Seiten des letzten Buches fällt? Wie werde ich mich bis dahin definieren? Über charismatisch lobenswerte Taten oder abhorreszierende Verhaltensweisen? Oder gar über Sprache, möglicherweise bestechend präzise, möglicherweise nur von oberflächlichen Floskeln beseelt? Vielleicht werde ich bis dahin ein anderes Ich sein. Vielleicht habe ich eine Menge Neues über mich gelernt. Aber ganz sicher werde ich wissen: Ich bin ich, individuell, unnachahmbar, unergründlich.