Spät am Nachmittag gehe ich langsam die alte Straße in unserem Dorf entlang. Die großen und kleinen Pfützen sehen aus, als hätten sie keinen Grund und ihre matschigen Ränder wirken als würden sie in den dunklen Abgrund rutschen, wenn ich näher komme. Also suche ich mir einen Weg, der weit um die vielen Pfützen führt. Ich zittere innerlich ein wenig und es kommt mir vor, als würde ich nur ganz wenig vorankommen. Endlich lasse ich die dicht stehenden Häuser hinter mir und sehe nur weit entfernt hinter einer Brücke ein einzelnes Haus. Schon bald taucht hinter einem halb zerfallenen Zaun, der nur noch aus ein paar morschen Pfählen und herunter gedrücktem Draht besteht, eine dicht und wild bewachsene Wiese mit einigen großen Bäumen. Ich kämpfe mich durch das kniehohe Gras, das mit einigen Blumen geprägt ist. Dann stehe ich plötzlich vor einem großen alten Baum. Ich habe nie darüber nachgedacht, was es für ein Baum ist oder wie lange er dort schon stehen könnte. Aber er muss wohl schon sehr alt sein, denn solange ich mich zurück erinnern kann, steht er schon da und sicher auch schon lange davor. Ich klettere den Baum hinauf. Ganz automatisch. Ich denke nicht über die Schritte nach, die ich da tue, ich weiß sie einfach, ich weiß auch, dass ein falscher Schritt den Absturz bedeutet. Nun sitze ich fast ganz oben auf einem dicken Ast, so dick, dass ich ihn gerade so mit beiden Armen umfassen kann. Das Zittern in meinem Körper wird stärker und ich muss aufpassen dass ich nicht herunterfalle. Ich lege mich auf den Rücken. Der Himmel, mit den wenigen dunklen Wolken und die Äste über mir verschwimmen vor meinen Augen und bald darauf merke ich, wie mir dicke Tränen über die Wangen laufen. Sie laufen links und rechts über mein Gesicht fast bis zu meinen Ohren und fallen lautlos in die Tiefe unter mir. Ich kann den Grund meines Weinens nicht genau beschreiben. Ich weine meine ganze Trauer, Wut und Enttäuschung aus, aber auch die Freuden, die Glücksmomente und die wunderschönen Stunden der letzten Tage fallen mit diesen Tränen in die Tiefe. Endlich merke ich, wie der Kopf ganz langsam immer leerer wird, bis irgendwann kein Tropfen mehr aus meinen Augen kommt und die für mich eben noch still stehende Welt sich weiter dreht. Erst jetzt bemerke ich, dass es um mich herum menschenleer ist und nur ein sehr leichter Wind weht. Der kleine Bach, mindestens zehn Meter von mir entfernt liegt ruhig und Schilf bewachsen in der Landschaft. Sein sonst so munteres Plätschern ist in dieser Entfernung nicht zu hören. In den vereinzelten Bäumen um mich herum sehe ich den Wind mit herbstlich aussehenden Blättern spielen. Sie bewegen sich alle sanft mal in die eine, mal in die andere Richtung, so als würden sie auf den richtigen Moment warten um wegzufliegen. plötzlich fühle ich mich so unbeschreiblich leicht wie eine Feder. Der Wind weht nun auch in den Baum, in dem ich sitze, und ich stelle mir vor, ich könnte mit ihm fliegen. Nur ein kleines Stück übers Land und ich könnte mir alles in Ruhe von oben ansehen. Er würde mich sanft dort absetzen, wo mich keiner kennt. Und ich könnte ein ganz neues Leben anfangen. Alle meine Fehler könnte ich rückgängig machen und jede Entscheidung gründlich überlegen.
Nun brennt der Wind ein wenig in meinen Augen, ich blinzle zweimal. Der wunderschöne Traum vom Fliegen ist vergessen und weggeblasen, als wäre er mit dem Wind auf und davon. Weit in der Ferne sehe ich nun auf einer der angrenzenden Weiden einige Tiere. Es sind Pferde. Unsere Pferde. Ich erinnere mich, wie ich noch vor einigen Tagen auf ihrem Rücken saß und mich durch die Landschaft habe tragen lassen. Es war ein wunderschönes Gefühl.
Natürlich gibt es auch nicht so angenehme Erlebnisse mit Pferden, aber an die kann ich mich kaum noch erinnern. Wahrscheinlich haben die positiven Ereignisse die negativen aus meinem Kopf verdrängt. Und ich denke, das ist auch besser so.
Diese Gedanken der Freiheit auf dem Pferderücken wecken ein ungeheuer großes Gefühl der Lebensfreude in mir und ich würde am liebsten von ganz oben herunter springen, tanzen und mich drehen. Mein ganzer Körper kribbelt plötzlich, so dass ich gar nicht mehr still sitzen bleiben kann. Ich klettere geschickt wie ein Eichhörnchen den Baum wieder herunter und nehme alles um mich herum ganz genau wahr. Die alte Rinde unter meinen Fingen scheint zu leben und mit mir sprechen zu wollen. Ich höre sie nur nicht, wie genau ich auch lausche. Ich kann es mir nur vorstellen, was sie sagen könnt. Das Gefühl in mir wird immer stärker und ich tanze über die Wiese zwischen Straße und Baum. Ab und zu bleibe ich stehen und rieche an einer Blume und kitzle mich mit einem Grashalm. Die Straße, auf der ich nun bin, ist ganz kurz und auf ihr wachsen vereinzelt ein paar Grasbüschel oder liegen lustig aussehende, kleine Kieselsteine. In mir ist die Sonne aufgegangen und ich könnte die ganze Welt umarmen. Ich bin einfach nur froh hier auf der Wiese beimeinem Baum zu sein und zu wissen, dass meine Familie zu Hause auf mich wartet.
Es wird langsam dunkel und es wird Zeit für mich nach Hause zu gehen.