Benjamin Sasse, Klasse 12, Gymnasium Carolinum Neustrelitz
Dort nehmen viele Dinge einen anderen Lauf als hier, obwohl sie für uns oftmals verblüffende Parallelen aufweisen. Es ist ein Ort der Wunder und der Träume, wenngleich zuweilen auch ein Refugium des Wahnsinns und der Tragik, doch was sonst als diese Ambivalenz kommt der destillierten Essenz des Lebens nahe? Das Bekannte kann in absonderlicher Weise verzerrt und die Naturgesetze außer Kraft gesetzt scheinen. Bereits alltägliche Ereignisse mögen in unseren Augen lächerlich oder verwirrend wirken.
Ein Panoramablick über diese Erde zeigt sie uns von ihrer schönsten Seite: Kerngesunde, munter wachsende Gletscher und Eisberge schieben sich frohlockend durch Täler und Buchten und tragen mit mehreren tausend Tonnen Eis direkt vor der Haustür zur Klimawandel-Diskussion bei. Das Ozonloch ist erfolgreich geflickt, verleimt und vernietet. Die Antibiotika im Fleisch sind endlich so klein, dass sie beim Essen nicht mehr an den Zähnen knirschen. Umweltfreundliche Energien haben ihren Siegeszug angetreten: Solarkartelle haben Australien gekauft und komplett mit Silizium überzogen. Allein das hübsche Funkeln, vom Weltraum aus gesehen, sei es wert gewesen, konstatiert die NASA. Die CIA leugnet, dass ein Staat namens "Australien" je existiert habe, löscht sämtliche darauf hindeutende Wikipedia-Artikel und schiebt die Verbreitung solcher Gerüchte dem FBI in die Schuhe, woraufhin das FBI seine eigene Existenz vehement abstreitet.
Auch die sittenstrenge, gesetztestreue Bundesrepublik macht durch unerhörte Vorkornrnnisse auf sich aufmerksam. Benzinpreise befinden sich zu Ferienbeginn im Sturzflug. Gepflegte Züge verlassen pünktlich die Bahnhöfe. Marmeladenbrote drehen sich zu ihrer eigenen Verwunderung im Fall auf die unbeschmierte Seite. Ehrenamtlich arbeitende Manager treten massenweise zum Buddhismus über und propagieren die Nichtigkeit allen irdischen Besitzes, während sie in den Mittagspausen in den Einkaufsstraßen um Essen betteln. Marcel Reich-
Ranicki verbreitet seine genüssliche Programmkritik Dienstag nachmittags auf RTL, zwischen der "Oliver Geissen Show" und den „100 lustigsten Gemüsesorten der Welt". Boris Becker heiratet seine heimliche Jugendliebe Alice Schwarzer auf Deutsch-Mallorca. Die Bundesregierung eröffnet Strafkolonien für gewaltbereite Nazis auf den äußeren Jupitermonden.
Auch der schwarze Präsident der Vereinigten Staaten greift zusammen mit seinem minderheitengerechten Dreamteam hart durch. Seine lesbische Umweltministerin verbietet endgültig die Spatzenjagd mithilfe großkalibriger Artillerie und der atheistische Justizminister verkündet die Umwandlung von Guantanamo in ein Kinderferienlager. Herbert Grönemeyer höchstpersönlich übergibt den Kindern das Kommando. Auch die amerikanischen Kernwaffentests auf Taka-Tuka-Land werden endlich eingestellt und durch virtuelle Simulationen ersetzt, denen innerhalb kürzester Zeit zahlreiche bekannte Online-Rollenspiel-Welten zum Opfer fallen. Währenddessen bleibt die über lange Jahre zur Tradition gewordene Bombenstimmung im Nahen Osten überraschenderweise aus, angeblich aufgrund der versöhnenden Weihnachtsansprache Osama bin Ladens, der den unprofitablen internationalen Terrorismus an den Nagel hängt und fortan nur noch als Fluglehrer für Freizeitpiloten arbeitet.
Und so endet das Jahr 2009, das friedvollste seit Menschen Gedenken. Welcher andere Ort hätte besser gepasst, wäre beliebter gewesen, hätte mehr Sehnsüchte auf sich vereint? Denn die Jugend hat stets Heimweh nach der Zukunft.