Colin Frank Bartel, Rowa, Klassenstufe 13, Albert-Einstein-Gymnasium Neubrandenburg
Die Grundschule am Berg Kleine Festrede eines „Altschülers“ zur Jubiläumsfeier des Fördervereins der Grundschule am See
Liebe Eltern, liebe Lehrerinnen und Lehrer, liebe Gäste, vom frühen Windelalter bis zu meinem zwölften Lebensjahr haben meine Eltern für mich Tagebuch geführt. Da ich Sie aber nicht mit ungefragten peinlichen Details im Stile eines Dieter Bohlen oder Oliver Kahn quälen will, habe ich selbstverständlich all diese zehn Bände meiner „Memoiren“ zu Hause gelassen. Außerdem sind es Aufzeichnungen aus der eher subjektiven Sicht von Vater und Mutter, hie und da bereichert um ein paar Fotos und Filmchen. Und selbst wenn es den Eltern tatsächlich gelungen sein sollte, die entscheidenden Schlüsselerlebnisse ihres Sprösslings wirklichkeitsnah einzufangen, den jeweiligen Schlüssel zum Verständnis der geschilderten Geschehnisse muss ja das Kind im Laufe des Lebens selbst entdecken.
Nun, für die Episoden, die ich Ihnen vorstellen möchte, habe ich, wie ich glaube, einen, sogar einen gemeinsamen Schlüssel bereits gefunden: Es ist - dieser Ball ( Spiel mit dem Ball in der rechten Hand ). Die drei kurzen Geschichten, für die genau dieser Schlüssel passt, spielen alle in meiner Grundschulzeit - andernfalls wäre ich ja heute Abend auf der falschen Fête. Mein Ball garniert zunächst eine amüsante Anekdote, dann hilft er eine weitere Story verstehen, die ebenfalls in meinen Tagebüchern auftaucht und wahrheitsgetreu nach meiner eigenen Erinnerung ergänzt werden soll. Und schließlich enträtselt diese kleine weiße Kugel ( Spiel mit dem Golfball, nur rechts ) für Sie eine dritte Geschichte. Diese ist frei erfunden, aber deshalb noch lange nicht unwahr! Die Tagebücher nennen immerhin den Zeitraum, wann sie hätte geschehen können.
Nummer eins, die verbürgte Anekdote:
Nach den letzten von purer Langeweile geprägten Tagen im Kindergarten wurde ich endlich eingeschult, in einer kleinen Dorfschule. Meine erste Klassenlehrerin fand ich richtig nett. Da ich schon ein wenig lesen und schreiben konnte, war das bei ihr erlernte Zeichnen von Schleifen und Bögen mit dicken Buntstiften als Vorstufe des Schreibens allerdings bei weitem nicht so spannend und aufregend, wie man uns beim Überreichen der Schultüten wortreich versprochen hatte.
Überhaupt: Wenn die Schule derart übertrieben angepriesen wird als „schönste Zeit des Lebens“, diese aber offenbar versüßt werden muss durch Berge von Nougat und Schokolade in industriefreundlichen, überkindsgroßen Schultüten, dann muss man doch bei aller mitgebrachten Begeisterung gesundes Misstrauen hegen, oder nicht?
Wie recht ich damit hatte, bewies mir meine Klassenlehrerin schon nach vier Wochen. In einer Pause war ich unbefangen neben sie getreten und gab ihr plötzlich mit den Worten „Du hast aber einen dicken Hintern!“ einen freundlichen Klaps auf eben denselben. Prompt wurden meine Eltern zur Rede gestellt. „Ihr Sohn hat mir gestern auf den Allerwertesten geschlagen und dazu gesagt: Du hast aber einen fetten Arsch! “ Und voller Empörung, die nach so vielen Stunden immer noch nicht verraucht war, fügte sie hinzu: „Das hat mir in meinen elf Jahren als Lehrerin noch keiner zu sagen gewagt.“ Weil meine Eltern darauf bestanden, habe ich mich brav entschuldigt. Doch insgesamt nahmen sie es eher humorvoll auf. Sie schlossen nämlich dieses Kapitel im Tagebuch mit einem Zitat meiner munteren Patentante ab: „Dös Büble isch halt koi räschder Schwob. Sunscht hätt er Ärschle gsoat.“ Wie Sie sicherlich herausgehört haben, wohnt meine Tante unweit der Burg des Götz von Berlichingen, der in solchem Zusammenhang viel zitiert wird.
Nun, abgesehen davon ist mir noch zweierlei hängen geblieben: Erstens kannte diese Lehrerin offenbar Michel aus Lönneberga überhaupt nicht, denn der hatte, wie ich von der vertrauenswürdigen Frau Astrid Lindgren sicher wusste, seine schöne Lehrerin sogar auf den Mund geküsst. Er könne nicht anders, hatte er seine plötzlich ausgebrochene Liebe zur Schule begründet. Ich konnte durchaus. Ich habe - statt eines Busserls - unverzüglich diese Lehrerin aus der Liste meiner Angebeteten gestrichen, zu der sie bis dahin trotz ihres ausladenden Hecks zählte. Nicht, weil sie etwa weniger hübsch gewesen wäre. Ganz offensichtlich aber gehörte sie, die uns als Lehrerin ja schlau machen sollte, selber nicht zu den Klügsten. Sonst hätte sie doch verstanden, dass ich, der Klassenbenjamin, nur ihre Nähe gesucht hatte; Psychologen nennen das wohl verhüllte Kontaktaufnahme. Und sie hatte, um ihre Empörung dick zu unterstreichen, zudem gelogen. Ich hatte nie und nimmer „fetter Arsch“ gesagt, sondern es getreu meiner vom Vater ererbten pedantischen Art bei der exakten Ortsangabe, Hintern, belassen.
Diese ganze Ur-Szene wäre nun nicht weiter erwähnenswert, wenn sie nicht spürbare Folgen nach sich gezogen hätte: Ich ging - unbewusst - von nun an zu allen Lehrern und Lehrerinnen erst einmal auf argwöhnische Distanz. Erstes Fazit: Das Misstrauen war gesät. ( Schaut fragend den Ball in der rechten Hand an ).
Episode zwei:
Schon wenige Wochen später, also noch vorm allerersten Zeugnis, kam ich hier an die Grundschule am See, zunächst in die Hände von Frau Pospischil. Diese mütterliche Lehrerin ließ mich eines Tages in der Klasse eine gute halbe Stunde lang aus einem dünnen Büchlein vorlesen, nämlich Benno Pludras „Bootsmann auf der Scholle“. Diese Erzählung gehörte bestimmt zu Ihren Jahrgängen so wie zu meiner Generation die steinzeitlichen Computerspiele Tetris , Lemminge oder Sim City, nicht zu vergessen die bei Lehrern unweigerlich Allergie auslösenden Gameboys; ich erinnere hier nur, mit voller Absicht, an Spiderman.
Vorlesen dürfen, vorlesen wie ein Lehrer, das war für mich ein von Frau Pospischil bewusst inszeniertes Erfolgserlebnis der besonderen Art. Denn so gerne und ausdauernd ich Simba, den König der Löwen , im PC durch die aufregenden Levels der Savanne lotste, wodurch ich so ganz nebenbei mein Tempo beim Klavierspiel beträchtlich steigern konnte, die gedruckte Welt Gutenbergs hat mich seit diesem selbst gelesenen Buch nicht mehr losgelassen. Damals gab es, und vermutlich hat die Schulleiterin, Frau Tannert, dies in der Zwischenzeit noch ausgebaut, im zweiten Stock eine kleine Schulbibliothek, die ich Buch um Buch leergraste. Bis auf die niedlichen Reiterhofgeschichten, die ich großzügig den Mädchen überließ. Nur Mädchen mit der natürlichen Veranlagung zum Putzteufel können doch Spaß haben an Geschichten über Stallausmisten und Pferdestriegeln. Zum Glück, ich brauchte ja dringend Nachschub in mehr Gänsehaut erregender Literatur, machte mich Frau Tannert sehr früh auf den Bibliotheksbus aufmerksam, der einmal wöchentlich vor dem Schulhof auf Leserattenfang aus war. Ich las von da ab nur noch körbeweise. Dreimal dürfen Sie nun raten, wo ich in der 10. Klasse mein obligates Betriebspraktikum absolvierte.
Auf Anraten einer mutigen Schulpsychologin durfte ich alsbald - unter anderem also dank Pludras zotteligem Vierbeiner - vorzeitig in die dritte Klasse aufsteigen. Das bedeutete einmal mehr neue Mitschüler, die mich noch misstrauischer beäugten als ich sie. Es gab, und darüber steht in den Tagebüchern kaum ein Wort, anfangs durchaus Momente, da fühlte ich mich wie Bootsmann auf der Scholle, bibbernd auf dünnem Eis, verloren und einsam. Ein Schüler, der ja Misstrauen als Lebenshilfe schon gelernt hatte und deshalb gegenüber allen Lehrern den offenbar notwendigen züchtigen Abstand wahrte, ein solcher Schüler kann ja auch nicht erwarten, dass man ihn sofort bedingungslos in sein Herz schließt. Ein typisches Kind zum Knuddeln war ich sowieso nie. Doch Frau Tannert half mir auf andere Art, durch sie erwarb ich Selbstvertrauen und lernte, mich auch unter älteren und stärkeren Kameraden durchzusetzen. Ich erkannte, dass es auch Lehrer gibt, die einen nicht enttäuschen. Die einen von der Eisscholle retten. Denen man Vertrauen schenken darf.
Zweites Fazit ( Werfen des Golfballs mehrmals von Hand zu Hand, mit typischer Waagebewegung ): Seitdem halten sich bei mir gesundes Miss trauen und vorsichtiges Vertrauen die Waage.
Nur mal so nebenbei: Hat einer schon eine vage Idee, was der ominöse Ball damit zu tun hat?
Jetzt warten Sie natürlich, ( ironisch schmunzelnd ) auch weil Sie damit das rasche Ende meiner kleinen Rede erhoffen dürfen, gespannt auf des Rätsels Lösung, die ja nur noch verborgen sein kann in der angekündigten, nicht auf Tatsachen beruhenden, aber dennoch wahrhaftigen Geschichte Nummer drei.
Diese ist eine Art Gleichnis, eine Parabel, so wie es sich für diese Flugkurve gehört ( Spiel mit dem Golfball, Wechseln der Hände; Wurf des Balles von einer Hand in die andere, so dass die Flugbahn, die Wurfparabel, für alle sichtbar ist ). Nein, meine Eltern spielen nicht Golf. Das ist nicht ihre Welt. Aber sie gehen viel ins Gebirge, bergwandern und klettern.
Es war unmittelbar nach Abschluss der vierten Klasse, Sommerferien, Urlaub in Südtirol. Am Nachbartisch im Hotel beobachtete ich Abend für Abend verwundert einen jungen Mann, der rastlos mit solch einem Golfball ( Wiederholt Kneten des Balles in der Handfläche ) spielte. Morgens beim Frühstück habe ich diesen Gast nie gesehen, da war er längst aus dem Haus. Erst abends tauchte er wieder auf, grüßte höflich zu den Nachbartischen, wechselte aber nie mit anderen Gästen ein Wort. Er sah aus wie eine jüngere Ausgabe von Mel Gibson oder Brad Pitt nach Jahren im Fitnessstudio – und sah so intelligent drein, wie manch ein Präsident gerne wäre. Er aß wie diese Amerikaner mit der Gabel abwechselnd nur mit einer Hand, nachdem er alles auf seinem Teller sorgfältig kleingeschnitten hatte. Mit der anderen drückte er unauffällig unterm Tisch unermüdlich den Ball, so hart er konnte ( Pressen des Balles ). Presste ihn fest, bis die Knöchel sichtlich weiß wurden. In gleichmäßigem Rhythmus, immer und immer wieder. Was für eine Kraft! Hätte ein Golfball Luft im Innern, sein Ball wäre so platt gewesen wie eine zerquetschte Mandarine. Doch ein Golfball, klar, muss auch eisenharte Schläge vertragen können. Der gibt nicht nach.
Die Ferien waren fast vorüber. Meine Eltern und ich standen im Schatten der Großen Zinne in den Sextener Dolomiten und beobachteten mit Ferngläsern die drahtigen Burschen und Mädels, wie sie ruhig in Dreier- oder Viererseilschaften die senkrecht in den blauen Himmel ragende Kalkwand bezwangen. Ringsum Stille, nur hin und wieder durchbrochen von wind-verwehten Hammerschlägen oder halblauten Kommandos: „Seil!“, „Stand!“ und „Komme!“. Nur einer kletterte offenkundig allein. Und dies irre schnell, raubkatzengleich und elegant. Ein cooles Solo – sein Leben reduziert auf 3000 Griffe und Tritte in der Direttissima. Als ich ihn plötzlich - ungelogen! - nur noch mit den Fingerkuppen der rechten Hand über dem Abgrund baumeln sah, meinte ich nur bewundernd: „Wow!!“ Zwar war auch er gesichert durch ein Seil, das er hin und wieder in den alten Haken, mit denen die mächtigen Pfeiler schon von Vorgängern gespickt waren, lässig nachführte. Doch sein Seil stand nie unter Zug, er benutzte keinen einzigen dieser Haken als Kletterhilfe, höchstens zur Sicherung, ansonsten vertraute er in der nicht gerade griffigen, weil henkelarmen Route allein auf seine Fingerkuppen und Fußspitzen. Wie ein außerirdischer Spiderman aus Hollywood, und das live! Freiklettern, free climbing, ich sah diese waghalsige Disziplin zum ersten Mal. Meine eigenen Erlebnisse in den gesicherten Klettersteigen, selbst in der luftigen Höhe von Dreitausendern, kamen mir dagegen vor wie das Spielen in den kindgerechten Klettergerüsten hier hinter dem Schulgebäude auf dem Pausenhof. Der Mann war - trotz Helm, den er trug, kein Zweifel - mein Golfballdrücker vom Nachbartisch. An unserem letzten Urlaubstag regnete es Katzen und junge Hunde; oh, ( Blick nach oben, lächelnd: ) Bootsmann, verzeih! Ich entdeckte nachmittags meinen Kletterer im Aufenthaltsraum und, ich war über meinen Mut selbst erschrocken, sprach ihn an. Ich hätte ihn gesehen, in der Nordwand, unterhalb der berüchtigten Schlüsselstelle am letzten Überhang. Und dann fragte ich ihn einfach: „Das mit dem Golfball, reicht das als Training dafür aus? Müssen Sie nicht auch an Reckstangen oder Türrahmen üben oder so was?“ Und dann spielte ich den ganz Schlauen: „Kann man nicht durch Drücken eines nachgiebigen Tennisballes viel mehr Kraft erwerben?“ Er lächelte und sagte: „Na ja, einarmige Klimmzüge musst schon bringen, wenn du Spitze sein willst. Aber das mit dem Ball gehört von Beginn an zur täglichen Übung. Nur: Du musst arbeiten, nicht der Ball. Die Hilfe des Balles, verstehst du, liegt nur darin, dass er da ist. Unveränderlich. Bist du schon mal ein wenig geklettert?“ Ich nickte wortlos; nie und nimmer hätte ich gestanden, dass ich bisher nur Brustgurt mit Karabinerhaken für Drahtseilsicherungen kannte. „Nun, dann weißt du ja: Was kümmerts den Fels, wer auf ihm klettert? Der Berg hilft nicht, er gibt nicht nach. Auch er ist, wie der Ball, halt nur da . Fels, selbst wenn er wie in den Dolomiten so brüchig ist wie Knäckebrot“, er lachte, „ist steinhart. Kalkstein ist nun mal weder Nougat noch Schokolade. Also trainiere ich mit diesem Golfball.“ Er gab ihn mir ( Geste des Überreichens, wiederholtes Spiel mit dem Ball ). „Schau ihn an. Er hat rund vierhundert kleine Vertiefungen. Diese Dimples, die winzigen Dellen, verbessern bekanntlich den Flug. Für mich sind sie nur deshalb wichtig, weil die Hand beim Drücken nicht so leicht schwitzt. Versuch mal so fest zu rollen und zu kneten, wie es nur geht. Und?“ „Ich hab das Gefühl , er gibt nach, aber das stimmt nicht.“ „Richtig. Dolomitgestein schürft dagegen beim Pressen deine Haut unweigerlich auf. Deine Fingerkuppen bluten dann wie beim verunglückten Reiben von Parmesan. Nicht so mit diesem Ball. Nach ein paar Übungswochen hast du mehr Kraft im kleinen Finger als deine Kumpels im ganzen Arm. Und dann, erst dann kannst du deinen eigenen Händen wirklich vertrauen. Die sind beim Freiklettern fast wichtiger als die Beine. Deine Schwielen sind das sichtbare Maß für deinen Fortschritt. Du musst am Ball dir erarbeiten, was du im Fels brauchst. Spielerisch.“ Spielerisch? Ich wurde neugierig. „Ich habe gehört, dass einige mit der Freikletterei sogar Geld verdienen. Die machen Reklame für Bergausrüstungen und so. Bist du ein Profi?“ Er lächelte. „Nein. Ich bin Lehrer.“ „Etwa in einer Bergschule?“ Er schüttelte belustigt den Kopf. “Grund- und Hauptschule. Das ist auch eine Art Kletterkurs, nicht wahr? Ich unterrichte in Golfbällen.“ Ich muss das blödeste Gesicht gemacht haben, zu dem ich fähig bin. „Nun“, und jetzt grinste er breit, „ich vermittle den Schülern den Schulstoff immer in passenden Brocken, quasi in golfballgroßen Häppchen. Ich selbst helfe nicht viel. Ich fordere auch nicht, jedenfalls selten, aber ich fordere sie ständig heraus. Meine Schüler trainieren unentwegt am Stoff, sie lernen allein. Am Berg des Wissens. Der wird ja auch nie kleiner. Du hast sicher schon gemerkt: Je älter du wirst, umso gewaltiger werden die Bibliotheken.“ Da kitzelte mich die Neugier erneut: „Bist du schon einmal abgestürzt?“ „Am Anfang schon, ein- oder zweimal, doch gottlob nur ins Seil. Ich gehe nur mit Sicherung. Will ja alt werden.“ Und dann gab er mir noch einen Tipp: „Beim Bergklettern musst du - bei jedem Griff, bei jedem Tritt - wie ein Zirkusartist mit der Balancierstange auf dem Drahtseil das Gleichgewicht halten!“ Schade, er war wohl doch nur ein normaler Erwachsener wie alle anderen auch und liebte das Sprücheklopfen. „Das Gleichgewicht? Beim Steigen?“ „Ja, das Gleichgewicht. Du musst nämlich die Balance halten zwischen gesundem Misstrauen und vorsichtigem Vertrauen!“ ( Stirnrunzeln; Spiel mit dem Ball zwischen beiden Händen erneut mit Andeutung einer bewegten Waage: ) Während ich noch überlegte, ob und wann ich das schon einmal gehört hatte, fuhr er fort: „Was ich aber meine, ist: die Balance halten zwischen Misstrauen gegen dich selbst und Vertrauen auf dein eigenes Können . Ich führe meine Schüler, sobald sie bereit sind, behutsam, aber zügig zu immer schwierigeren Routen und höheren Bergen, manchmal allein, manchmal in Gruppen ( Hervorzaubern eines zweiten oder gar auch dritten Balles aus der Hosentasche, das bekannte Jonglieren mit diesen Bällen mit beiden Händen, dann wieder nur mit einem Ball weiterspielen ) . Wie beim Golfball, der sich nicht ändert, bleibt auch der nächsthöhere Lernbrocken stets gleich schwierig. Sie lernen, mit dem Ball, im wahrsten Sinn des Wortes, durch Begreifen . Dabei“, mahnte er, „sollen die Schüler sich formen, nicht den Ball. Der bleibt allemal kugelrund, nur sie selbst kriegen Muckis, aber im Hirn.“ Und dann, schon im Weggehen, fügte er, ganz Lehrer, aber doch ohne Zeigefinger, hinzu: „Machs nach. Dann wirst du wachsen.“ Also - so leicht lass ich mich nicht abspeisen, ich rannte hinterher: „Aber wenn es langweilig wird?“ „Ach was! Es gibt doch keinen langweiligen Schulstoff, höchstens langweilige Lehrer. So wie es keine langweiligen Berge gibt. Angenommen, es gäbe tatsächlich solch einen irgendwie langweiligen Hügel, den zu erklimmen noch keiner Lust verspürte. Dann aber wäre dieser öde, eintönige, bisher noch nicht bestiegene Buckel doch gerade dadurch interessant. Und schon deshalb nicht länger langweilig. Langeweile kann gar nicht aufkommen, wenn du die Berge, übrigens auch nicht alle, in der für dich richtigen Reihenfolge zu der für dich richtigen Zeit bezwingst. Machs, dann wirst du reifen.“ ( Kunstpause, gedankenverlorenes Drehen des Balles in einer Hand ).
In einem halben Jahr werde ich die sogenannte Reifeprüfung ablegen. Ich hänge in der letzten Seillänge, in der Nordwand des Abiturs. Ich werfe heute Abend also gleichsam kurz vor dem Gipfel einen Blick zurück ins Tal. Dort unten ziehen erste Nebel auf und versperren bereits die volle Sicht. So wie meine Erinnerung verblasst und nun Tagebücher aushelfen müssen, das Gedächtnis aufzufrischen. Drunten in der Grundschule, dieser Blick ist zum Glück noch ziemlich frei, war ich gestartet. Dort habe ich mit der schulischen Kletterei begonnen: Lesen, Schreiben und Rechnen gelernt, die uralten Granitpfeiler der Kultur. Genau so wie Sie früher.
Nur die vierte Kulturtechnik wurde auch mir damals hier noch nicht beigebracht, diese Kletterwand war erst im Aufbau, ich meine den sinnvollen Umgang mit dem PC. Ich übte jedoch zu Hause am Computer schon früh, auch für den anspruchsvollen Tannertskofel, so könnte man Frau Tannerts ansehnlichen Berg von Hausaufgaben taufen.
Beim Blick zurück sehe ich mich wieder, den schmächtigen Siebenjährigen, mit Herzklopfen im ersten Anstieg. Sehe, wie man ihn gezielt förderte, in dem man manches Mal geduldig auf ihn wartete oder ihn einfach vor der Zeit einen höheren Berg als üblich erklettern ließ. Allen, so lese ich im elterlichen Tagebuch, war dabei ein wenig bang zumute. Doch war dies halb so schlimm, beim nächsten Mal war übrigens alles nur noch Routine. Die Lehrer am Gymnasium nickten nur noch ab. Wie sagte mein alpiner Lehrer, der akrobatische Freiklimmer? Es gilt die richtige Reihenfolge und die richtige Zeit zu wählen ...
Frau Tannert und ihre Kollegen haben sich genau dies zur Aufgabe gemacht: die für jedes Kind persönlich passende Wahl zu treffen, der Zeit und der Route.
Die Grundschule am See, die so heißt, weil sie, nein, nein, nicht einen Steinwurf, sondern genau einen guten Golfschlag vom See entfernt liegt, diese Einrichtung hat erkannt, dass sie - wie jede andere Schule auch – in Wahrheit an einem Berg liegt. Übrigens, hier bei uns im Norden ist eher unbekannt, dass man im Gebirge die Route in einer Felswand sinnigerweise auch Führe nennt.
Und wie und wohin führen die Lehrer hier ihre Schützlinge? Das nach und nach entwickelte Programm dieser Schule, die individuelle Förderung der unterschiedlichen Begabungen, hat sich bewährt. Doch, wie ich höre, hat man sich natürlich noch weitere, höhere Ziele gesetzt ( Hochwerfen und Auffangen des Golfballs; dabei sichtbar die Höhe der Flugparabel stetig steigernd ). Das ist eigentlich nicht mehr als recht und billig; nicht nur Anfänger sollen sich ja ständig ( Drücken und Rollen des Balls in einer Hand ) am Golfball stählen, auch Fortgeschrittene, was sag ich, allen voran die Lehrer müssen weiter am Ball bleiben. Es rufen ja immer höhere Berge. Und die Aufgaben mehren sich, erst recht in diesen durch Pisa-Studien verunsicherten Zeiten. Jeder fühlt sich heute offenbar berufen, seine Vorurteile über Schule und Bildung lauthals verkünden zu dürfen. Da will ich mich nicht einreihen. Deswegen ( ironisch schmunzelnd ) habe ich fast nur über Berge gesprochen.
Ich bedanke mich bei dieser Schule für die hier erfahrene Förderung - und bei Ihnen allen für die Aufmerksamkeit bei meinem Bergreport. ( Spiel mit dem Golfball, deutliches Schmunzeln: ) In diesem Sinne, aber angesichts des Flachlandes ringsum, wo die Findlinge als höchste Erhebungen gelten, wohl doch nur in diesem Sinne: Berg Heil.
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