Dear Enrico, nunmehr ist es vier Jahre her, seitdem ich jene Reise in die Tschechische Republik unternahm. Du batest mich um den Bericht einer Reise, die auf mich den größten Einfluss seither gehabt hat. Die Tschechienfahrt im Jahr 1999 war meine erste eigenständige mit den bisher prägnantesten Erlebnissen. Auch war es wohl jene Unternehmung, die die Lust auf neue Länder, neue Kulturen und Abwechslung weckte. Ich fuhr im Sommer des besagten Jahres zum ersten Mal allein in die Ferien - mit dem Zug von Dresden nach Prag und von dort weiter bis an die tschechisch-slowakische Grenze, wo mich meine Freundin Hanka und meine Gastfamilie empfangen sollte. Ich wusste nicht, worauf ich mich mehr freute - auf das Wiedersehen mit alten Freunden, auf erlebnisreiche Wochen mit den lebensfrohen, freundlichen Tschechen oder auf die Stunden der Muße in der wunderschönen Gebirgslandschaft der Beskyden. Der Umschwung nach der tschechischen Grenze war bemerkenswert. Die Gebirgslandschaft des Erzgebirges lief entlang der Elbe langsam in grüne Täler aus, die Zugbegleiterinnen lächelten mich freundlich an, wenn sie mein Ticket abstempelten, die Sonne leuchtete und ihre funkelnden Strahlen spiegelten sich auf der vorbeischießenden Elbe. Prag, die goldene Stadt, zog an mir vorbei. Schon einmal, im Februar des selben Jahres, hatte ich das Vergnügen, jene traditionsreichen, prunkvollen Gebäude der alteuropäischen Stadt zu bewundern, und auch noch am Ende meiner Reise sollte ich in diese Stadt zurückkehren und ihre unzerstörten Kirchen, Brücken und Parks besuchen. Vorerst brachte mich ein Nichtraucherabteil der tschechischen Bahn ans Ziel meiner Reise weit östlich von Prag: Celadna, ein kleines Dorf in der Nähe von Ostrava, Osttschechien, sollte mir zur zweiten Heimat werden. Stell dir das so vor: Ein kleiner Bahnhof, zwei Gleise, ein Bahnhofshäuschen. Dahinter eine Bude mit Holzbänken, Bierangebot und Nestlewerbung. Am Bahnsteig steht Hankas Bruder und erwartet mich. Er nimmt mir die Tasche ab und gemeinsam legen wir das letzte Stück Weg zu „unserem" Haus zurück, vorbei am Friedhof, über die Hauptstraße, den Berg hinauf über eine Brücke und nach etwa einer Meile nehmen wir die rechte Abbiegung um zu den letzten Ausläufern des Ortes zu kommen. Typische tschechische, quadratische Einfamilienhäuser säumen die asphaltierte Straße hinter einer Weide. Im Vorgarten blühen von der Großmutter gepflegte Blumen, Großvater und Großmutter waren hinten im Gemüsegarten beschäftigt und kamen nun nach vorn, als Alena, der kleine Zwergschnauzer der Familie, mich freudig ankündigte. Es war eine herzliche Begrüßung mit Umarmungen, Grüßen, Nachfragen. Interessiert wollte die Familie von meiner deutschen Familie wissen, gespannt hörte ich den Neuigkeiten über Celadna zu. Der größte Golfplatz war hier im Bau, ein neues Wohngebiet sollte mit einem Kunst- und Technikfans begeisternden Brunnen eingeweiht werden, die Firma der Familie hatte neue technische Geräte erhalten, Hanka hatte die vorletzte Klasse mit gut abgeschlossen. Nach stundenlangem Gespräch, Knödeln mit Mohn und Fett, heißer Schokolade und kühlem Bier fühlte ich mich, als wäre ich nie weggewesen. Du weißt, was ich meine, wenn ich über Familienintegration und Wohlfühlen rede. Die nächste Zeit verflog für mich wie im Flug mit Familienaktivitäten, Ausflügen in die Slowakei, die Tatra und die Beskyden, ins Schwimmbad, in die Sauna, in die umliegenden Städte zum Shopping, und, und, und ...! Ich lernte viele neue Leute kennen und traf alte Bekannte wieder. So war eine Freundin Hankas ständig mit von der Partie. Und in der Nähe fand ein amerikanisches Camp statt, in das wir mehrmals mit den Rädern (die überhaupt neben der Bahn unser Hauptfortbewegungsmittel waren) fuhren. Hej, vielleicht war es da, dass ich beschloss, unbedingt Englisch wie eine zweite Muttersprache sprechen zu wollen!? Der größte Teil der Verständigung während meines gesamten Aufenthalts lief hauptsächlich auf Englisch ab. Denn obwohl ich durch den Russischunterricht viel aus der tschechischen Sprache verstand - ;-) du kennst meine Russischkenntnisse ja! IoI - konnte ich durch die so andere Grammatik doch nicht Tschechisch sprechen. Eines Abends gewitterte es. Nicht so wie hier, wo wir am Fenster sitzen und zählen, wie weit der Donner vom Blitz und damit das Gewitter von uns entfernt ist. Das Gewitter war nicht entfernt, es war da. Auch hagelte es, etwa so große Körner wie eine Walnuss. Ein wunderschönes Schauspiel der Naturgewalt war das! Und im Hintergrund sah ich die Berge... Ich musste los. Das sollte ich verlassen, was mir zweite Heimat geworden war. Als der Zug als Celadna ausfuhr, ging die Sonne rotglühend vor einem leuchtend blauen Himmel auf. Immer weiter entfernen sich die geliebten Berge. Ich glaube, ich habe geweint. So endete meine schönste Reise. Mir blieben noch lange Stunden im Zug, schöne Augenblicke in der goldenen Stadt Prag und viele Erinnerungen an einen Ort, den ich aus Zeitgründen noch nicht habe wiedersehen können. Ob es uns mit Cincinnati genauso ergehen wird? Ich habe Menschen kennen gelernt, ich war mit ihnen unterwegs, hatte Spaß. Und es war friedlich. Irgendwann vielleicht, wenn ich alt bin, fahre ich wieder mit der tschechischen Bahn in die hohen Berge mit der roten Sonne und den donnernden Gewittern und kaufe mir ein kleines tschechisches Haus inmitten fröhlicher, offener, einfacher Menschen. Was meinst du? Viele liebe Grüße, Urike